„Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Notwendige Veränderungen beginnen oft mit dem genauen Hinsehen – und mit dem Gesehen-Werden. Die Bibel erzählt davon in unterschiedlichen Geschichten. Eine dieser Geschichten ist die von Hagar (Gen 16), jener ägyptischen Sklavin von Abrahams Frau Sara. Weil Sara selbst kinderlos bleibt, zwingt sie Hagar, stellvertretend für sie selbst, mit Abraham den ersehnten Nachwuchs zu bekommen. Und tatsächlich, Hagar wird schwanger.
Konkurrenz ist vorprogrammiert. Hagar lässt Sara ihren Triumph spüren. Die Lage eskaliert. Die gekränkte Sara demütigt die schwangere Hagar so arg, dass diese flieht. Alleine ist sie nun unterwegs in lebensfeindlicher Wüstenhitze, als ihr an einer Wasserstelle ein Bote Gottes begegnet. Der weiß offenbar genau, mit wem er es zu tun hat. Er spricht Hagar mit Namen an: „Hagar! Du Sklavin Sarais, woher kommst du und wohin willst du?“ Aus der Frage nach dem Woher und Wohin ihres Lebensweges entwickelt sich ein Gespräch, das Hagars Not wenden wird. Der Bote Gottes wird Hagar zu einem Engel.
Hagar spürt und erlebt: Hier ist einer, der sich für mein Schicksal interessiert. Hier ist einer, der mich in meiner Notlage einer flüchtenden, schwangeren, ausländischen und rechtlosen Sklavin sieht. Für Hagar wird diese Erfahrung zu einer Gotteserkenntnis. So gibt sie Gott als erste Person in der Bibel einen Namen: El-Roi – Gottheit des Hinsehens. El-Roi – Du hast mich angesehen und mir Ansehen und Würde geschenkt.
Der Engel erinnert Hagar an den Segen, der auf dem werdenden Leben in ihr liegt. Er schickt sie zurück mit der Zusage: Hagar, ich habe dich im Blick und mit deinem Sohn, den du Ismael, „Gott hört“, nennen sollst, verheiße ich dir große Nachkommenschaft. So macht sich Hagar gestärkt und selbstbewusst auf den Weg.
Hagars Erfahrung ist die biblische Begründung für eine Kultur des Hinsehens. Sie ruft zur Achtsamkeit für Bedrängte, Bedrohte, Flüchtende und Marginalisierte, für Menschen in Not. Sie ermuntert, Menschen nach dem Woher und Wohin ihres Weges zu fragen und das Potenzial, das in ihnen steckt, zur Entfaltung zu locken.
Jesus hat vorgelebt, wie das gehen kann. Maria und Marta von Magdala, Zachäus, der Gelähmte am Teich Bethesda, sie alle haben es erfahren. Jesus sieht, was andere nicht sehen. Er fragt: Was willst du, dass ich dir tue? Wohin willst du? Er ergründet, was Menschen brauchen, damit ihr Leben (wieder) ins Lot kommt.
In seiner Nachfolge ist uns als Christinnen und Christen ein genaues Hinsehen zugemutet und zugetraut. Es gehört also zu unserer ureigensten Aufgabe, einen unverstellten Blick auf die Hagars dieser Welt einzunehmen und einzutreten für die Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen, unabhängig von Herkunft, Leistung, Geschlecht und Religion. So wirkt Gott in die Welt hinein, in der so viele auf Engel warten.
Klingt politisch? Ist es auch. Unser Glaube zieht sich nicht in geistliche Nischen zurück. Er zeigt sich im Einsatz für die Nächste und den Nächsten, konkret vor Ort und in weltweiter Verantwortung. So nehmen Christenmenschen teil an der öffentlichen Diskussion um Armut, Migration, gruppenbezogene Feindlichkeit, Klimaschutz und andere Themen. Gerade in polarisierten Zeiten ist es dran, Orientierung zu geben und Räume für nötige Diskurse zu öffnen.
Wo wir als Kirche in der Nachfolge Jesu Christi versuchen, die Welt und unsere Mitmenschen mit den Augen von El-Roi anzusehen, führt das zwangsläufig ins Politische – ins Tun dessen, was der Gerechtigkeit und dem Frieden, dem Leben dient.
Hagar begegnet dem Boten Gottes an der Quelle auf dem Weg nach Schur. In den biblischen Geschichten geht es um konkrete Orte, an denen Gottes besonderer Blick unsere Welt trifft. Gott sendet seine Botinnen und Boten aus und setzt auf sie.
„Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Das gleichnamige Spiel mag uns zu einer Art Sehübung werden: Sehen zu lernen, wie Gott sieht und darin seinem Namen die Ehre zu geben.
Antje Menn
Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland
(in: "Mitteilungen 2/2025, Mitgliederzeitschrift der Evangelischen Frauen im Rheinland e.V.)